Der zweite Tag im neuen Takt und wenige Minuten bringen mich in eine Parallelwelt. Gestern passierte ich 6:05 Uhr den Flandernbunker Richtung Kiellinie. Das Ostufer auf der anderen Seite der Förde, wo sich ein verschwommenes Weißgelb gerade in die blaue Stunde hinein reckte, ließ ich im Vorbeifahren nur im Augenwinkel wirken. Während ich mich auf die Fahrbahn konzentrierte, die ich als Radfahrerin nutzen musste – das schrie mir alle paar Meter ein riesigen Schild entgegen – kündigte mir ein Veranstaltungsplakat am anderen den Sommer in der Stadt an. Heute kenne ich sie alle schon. Heute weiß ich, wohin das Rad muss und lege meinen Blick so lange auf das Naturschauspiel, das sich täglich wiederholt und doch einzigartig bleibt, dass ich irgendwann anhalten und den Moment mit dem Smartphone rahmen muss. Das geht schon ganz automatisch. Ohne Schild oder Plakat. Drei Minuten, um die Straßenseite zu wechseln, das wuchtige Lastenrad auf seinen Ständer zu hieven, das Telefon aus der Halterung zu lösen und wohl um die 20 Bilder zu machen. Eins in den Status. 06:08 Uhr – dieser Blick belohnt für das frühe Aufstehen!
Ich fahre weiter und schon ist alles anders. Die Frau in Schwarz, die einzige, die zügig läuft und nicht joggt, sehe ich heute von vorn, nicht von hinten. Sie hat vor weniger als 3 Minuten die Richtung gewechselt – auf dem Weg nachhause wahrscheinlich. Die Frau mit Zopf parkte den Van der Strandbar gestern gerade vor dem Eingang. Heute ist der Motor aus. Die Sonnenschirme zum Teil bereits geöffnet. Gestern hüpfte mir ein Hase im Schlosspark beinahe vors Rad, heute mümmeln vier von ihnen schon auf der Wiese am GEOMAR neben den Möwen, diesen Langschläfern. Statt grüner Welle stehen alle Ampeln auf Rot. Es ist. als gleite ich durch eine Zeitschneise, alle im Takt, ich neben der Spur. Wie geht das weiter?
Wie lange muss ich diese Strecke zur gleichen Zeit wiederholen? 5:53 Uhr aufs Rad, 06:15 Uhr am Landtag – bis mich die Frau in Schwarz und die Mitarbeiterin der Strandbar und sogar die Hasen als Teil ihrer Zeitlinie wahrnehmen. Wann würden sie merken, dass sich etwas verändert hat: Die Frau auf dem weißen Rad ist aber heute früh dran. Oder würden sie glauben, selbst etwas später dran zu sein, weil sie eine längere Strecken schaffen wollen, der Van nicht sofort ansprang oder es im Hasenbau so gemütlich war.
Ja, solche Gedanken haben Menschen, die morgens um 6 Uhr die Kiellinie entlang fahren. Es ist einfach noch zu früh.