Nur peripher tangiert

Sie betrachtete sich im Spiegel. Furchen zogen sich quer über ihre Stirn wie Lebenslinien in der Handfläche. Das waren sie. Sie gehörten dieser Grüblerin, die sich seit Kindertagen fragte, warum die Menschheit so saudumm war. Warum Menschen nichts besseres zu tun hatten, als sich gegenseitig fertig zu machen. Und warum sie immer auf der Seite stand, die den Frust anderer zu spüren bekam, wie eine Bergspitze, die schweren Regenwolken im Weg steht. Die einen heulten sich an ihr aus. Die anderen reagierten sich an ihr ab.

Sie war nicht einmal groß. An ihr kam jeder wunderbar vorbei. Sie war das schemenhafte Gebilde im Raum, dass man zwar wahrnahm, auf das man aber einfach drauflatschen konnte, wenn einem der Platz besser gefiel, an dem man ziehen, reißen, es gern auch zerfetzen konnte. Der wird das schon nicht weh tun. Heute würde das ein Ende finden. Schon wirkten die kleinen Täler ihres Gesichtes weniger dunkel. Sie legte die Augen in Schlitze und starrte. „So alt musstest du Kuh werden, um das zu begreifen.“

Frau mit Weitgang

Dann musste sie lachen und bekam kurz darauf einen Schreck als sie darüber nachdachte, ihr Lachen könnte ihr entgleiten und zu einem Arielle-ich-habe-deine-Stimme-geklaut-und-du-wirst-den-Prinzen-niemals-heiraten-Gelächter à la Ursula ausarten. Wieso eigentlich nicht. Der Plan hatte etwas teuflisches. Deshalb wählte sie auch die Garderobe mit Bedacht. Nicht die schwarze Kutte, sondern Bleistiftrock. Nicht die Sneaker, sondern Pumps. Halb hoch. Es könnte sein, dass sie rennen muss. Dafür rot.

Wahrscheinlich ging sie zu weit, aber hier war niemand, der sie aufhalten konnte. Vorsichtig nahm sie die weiße Pappschachtel vom Tisch und wog sie von einer Hand in die andere. Damit kam sie bequem mit dem Rad durch die Stadt. Im Zug brauchte sie einen zweiten Sitzplatz, aber um diese Uhrzeit war die Regionalbahn sowieso meist leer. Und die letzte halbe Stunde im Bus würde sie schon auch überstehen. Schließlich war April – nicht zu warm, nicht zu kalt.

Ihre Gedanken flogen wieder zurück zu dem Moment, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Sie war früher in den Kindergarten gekommen, um Papierkram zu erledigen, bevor ihre Schicht begann. Die Tür zum Aufenthaltsraum stand halb offen und gerade als sie eintreten wollte, hörte sie auf der anderen Seite ihren Namen. Sofort pochte ihr Herz so wild gegen ihre Brust, als wollte es ausbrechen und vor dem fliehen, was folgen würde. Sie schnappte nur Gesprächsfetzen auf, weil ihr das Blut in den Ohren zu rauschen begann. Aber das genügte, um sich in den nächsten Wochen in ihr Gehirn einzubrennen und alle guten Gedanken aufzufressen. „Susann? Einfach unfähig, aber das ist ja nichts neues.“ Gelächter. „Das hat sie alles die neue Kollegin machen lassen. Typisch“. „Wenn man von der was braucht, ist das wie Warten auf Godot“. Es blubberte, es kreischte in ihr, während sie äußerlich neben einer Marmorstatue kaum aufgefallen wäre. Inklusive der ungesunden Gesichtsfarbe.

Achtung: Elefant im Raum

Ihr Griff zum Schlüsselbund unterbrach die Erinnerung. Susann stellte ihre Augen wieder scharf und konzentrierte sich auf das, was sie heute vor hatte. Heute würde sie nicht der Schatten, sondern der Elefant im Raum sein – bereit, Scherben zu verursachen. Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen, verstaute ihr Paket sicher in der Radbox und achtete peinlich genau darauf, dass es weder wackeln noch stürzen konnte. Wie das berühmte rohe Ei balancierte sie es in den Zug, sicherte sich eine 4er Sitzgruppe allein. Ihre Überraschung sollte schließlich nicht den falschen Menschen eine „Freude“ bereiten. Sie setzte ihre Marshall-Kopfhörer auf. Für Susann gab es einen Soundtrack zu fast jeder Situation. Mit „Ton Steine Scherben“ auf Maximum überzeugte sich sich selbst vom Erfolg ihres Plans: „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten“.

Drei Student*innen betraten nach ihr den Zugteil. Offensichtlich fanden sie es ziemlich unverschämt, dass diese Frau, alt und aufgedonnert, wahrscheinlich auf dem Weg zu irgendeinem öden Bürojob, in dem sie sowieso die ganze Zeit sitzt, den idealen Platz belegt. Mit Blick auf die Schachtel dachte sie sich wiederum: „Glaubt mir, ihr wollt hier nicht sitzen. Eigentlich wollt ihr jetzt überhaupt nicht in diesem Zug sein.“ Ben, so hieß er sicherlich, mit seiner schwarzen Brusttasche, den olivfarbenen Shorts, weißen Socken und Nike Air, die er schon seit dem letzten Winter durchweg trug, damit sie gut Retro wirkten, versuchte es mit einem genervten Blick in Richtung Platzbesetzerin. Da er jedoch hungrig, müde und sowieso stets bemüht gelangweilt war, ließ er sich gleich darauf neben Sophie, ganz sicher hieß sie Sophie, in einen 2er Sitz fallen und starrte gelangweilt-genervt vor sich hin. Seine Freundin schmiegte sich schon bald an seine Schulter und er hätte der Nähe einfach nachgeben können. Einsinken ins ausgesessene Blau der Bahnsessel, deren grauer Haltegriff an die Aufsitzhilfen an Krankenbetten erinnerten. Doch Ben blieb steif. Er versuchte sogar, die Arme bockig vor dem Körper zu verschränken. Sinnloses Unterfangen. Hinter ihnen saß Jakob, wahrscheinlich, der jetzt sein Gegenüber sein sollte. Sie hätten sich dem letzten Tag am Strand, perfekten Wellen und dem nächsten Semester widmen können. Immer wieder ging ein schon beinahe wütend gelangweilter Blick zu ihr – dieser Frau. Sie hätte doch sehen können, dass er seine Beine ausstrecken und Jakob ansehen möchte. Sofern das unter dem Batzen MakeUp überhaupt möglich war. Keine Miene verzog sie. Sie blickte einfach an ihnen vorbei in die fliegende Landschaft. Zumindest sollte sie verstehen, wie rücksichtslos es war, allein eine Sitzgruppe zu blockieren. Diese dämliche Schachtel neben ihr, er hätte sie am liebsten in die Gepäckablage über ihr verfrachtet. Nein, das hätte er nicht gewollt- wusste Susann, die den Inhalt der Schachtel kannte.

Einige Stationen und missmutig gelangweilte Augenroller später wurde auf der anderen Seite eine ersehnte Sitzgruppe frei. Ben streckte die Beine von sich, als habe man ihn in dieser Pappschachtel aufbewahrt. Sophie schläft auch hier weiter an seiner Schulter. Jakob sitzt nun gegenüber. In sein iPhone vertieft. Jetzt kann sich Ben endlich den perfekten Wellen an der Algarve zuwenden. Sie sind ja nur einen Wisch entfernt.

Alles anders

An jedem anderen Tag wäre die Geschichte nicht so ausgegangen. Ben wäre gar nicht in den Genuss gekommen, sich über Susann zu ärgern. Über sie ärgerte man sich nicht. Ihr nickte man kurz dankend zu, wenn sie den Platz ganz selbstverständlich für diejenigen räumte, die ihn gerade nötig hatten. Heute hatte sie ihn nötiger. Sie nahm den Raum ein. Sie beanspruchte ihn, um ihr Vorhaben zu trainieren, um sich Mut zu machen, um pikierten Blicken standhalten zu können. Sie würde es heute brauchen.

Endstation. Raus. Rolltreppe. Bus. Lief wie am Schnürchen. Keiner schaute sie an. Niemand bemerkte die Nervosität. Niemand hielt sie auf. Im Park übte sie den Griff in die Schachtel ein paar Mal. Es musste schnell gehen. Dann stand sie schon vor dem Kongresszentrum. Sie hatte sich den heutigen Tag ausgesucht, da sie nicht in der Kita sein würden, sondern hier gemeinsam zur Weiterbildung. Ohne Kinder. Teambuilding. Wie passend. Noch einmal holte sie tief Luft, während die Schiebetür geräuschlos vor ihr aufglitt. Auch sie hielt Susann also nicht auf. Ebenso wenig der Portier, der ihr den Weg zum Seminarraum schilderte. Vor der letzten Tür holte schaltete sie ihren inneren Kritiker endgültig ab.

Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, es schnell hinter sich zu bringen, doch nun wollte sie den Moment auskosten. Sie stellte sich vor den Tisch, an dem Anke saß und die Schachtel direkt vor ihr ab. Sie hob den Deckel so weit an, dass er offen blieb, aber niemand wirklich hineinsehen konnte. Wie zuvor geübt griff sie hinein, zielte, kurz, und mit einem unvergleichlichen Geräusch landete die Himbeer-Sahnetorte in Ankes Gesicht. Susann ließ nicht gleich los, sondern drehte den Boden einige Male, um weder Haare noch Ohren auszusparen. In diesen Sekunden zerflossen die Erniedrigungen der vergangenen Monate in Buttercreme. Wie sie bei der Leitung ihres eigenen Waldprojektes übergangen worden war, weil Anke der Chefin glaubhaft vermittelt hatte, dass Susann nicht zuverlässig arbeiten könne, da sie kleine Kinder hatte. Die Handynachrichten, die sie sich mit einigen Kolleginnen hin und her schickte, während Susann einen Vortrag zu ihrem Fachgebiet hielt, und das seltsame Grinsen, das sie sich nach jedem Vibrieren und Lesen zu warfen. Wie lange sie sich selbst für paranoid gehalten hatte.

Langsam lockerte sie den Arm. Nur ein kläglicher Rest Torte landete auf dem Boden. Ankes Gesichtsausdruck war nur zu erahnen. Noch schien sie derart geschockt, dass sie keine Anstalten machte, sich von dem Zuckerbrei in ihrem Gesicht zu befreien. Im Raum war es still. Niemand hielt sie auf. „Was du von mir hältst tangiert mich peripher“, sagte Susann, ein wenig enttäuscht, Anke dabei nicht in die Augen sehen zu können. Dann begriff sie, dass keine Kinder um sie herum waren. Latein hatte sie sich angewöhnt, um zu vermeiden, dass die Kids Begriffe aufschnappten und sie später Eltern mit Schnappatmung am Telefon beruhigen musste.

Susann lehnte sich vor, griff sich mit der gekrümmten Spitze des Zeigefingers einen ordentlichen Schlag Sahne auf der Wange ihres Gegenübers, schob ihn sich in den Mund und sagte gelassen: „Was du denkst, geht mir am Arsch vorbei.“ Sie wandte sich ab und hätte nicht sagen können, ob gleich darauf hinter ihr das Chaos ausbrach. Ihre Kündigung legte sie im Vorbeigehen auf dem Tisch ihrer Chefin ab, ohne sie auch nur anzusehen. Einmal durch die Tür, schob sie sich ihre Kopfhörer wieder über die Ohren. Das Lied für diesen Augenblick hatte sie in den letzten Monaten so oft gehört, um sich in eine Vision zu retten, in der sie mutiger und stolzer war. Jetzt trug sie der Text nach vorn in der Gewissheit, niemals würde sie jemand wieder aufhalten: „Ich würd dich gerne hau’n, doch lass es sein. Hauptsache, du haust rein. Denn viele Wege führ’n am Arsch vorbei.“

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