
Es gibt viele Geschichten, die nicht erzählt sind. Das wird mir am 17. Juni einmal wieder klar. Ein Datum, eine Straße in Berlin, ein Tag, der in der BRD leise und von einigen Menschen in der DDR heimlich als Tag der Deutschen Einheit gefeiert wurde. Viele Jahre lang, ein Datum, das einfach existierte. 70 Jahre nach dem Ereignis, das im Radio als eines der wichtigsten revolutionären Akte der deutschen Geschichte bezeichnet wird, das Fernsehsender zu Dokumentationen über die Rolle der Frauen beim Volksaufstand in der DDR veranlasst, frage ich meinen Mann: „Was habt ihr in Baden Württemberg eigentlich über diesen Feiertag gelernt? In der Schule, in der Familie, irgendwo?“
„Nichts“, sagt er. „Ich dachte immer, die Straße des 17. Juni in Berlin hat irgendwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun.“ Und ich? Wendekind. Thüringerin. Ich weiß, dass wir die gescheiterte Märzrevolution von 1848 gleich zwei Mal im Geschichtsunterricht durchgenommen haben. Kein Wort vom 17. Juni 1953. Kein Wort über mindesten 55 Tote (das ist nur die offizielle Zahl in dunkelziffrigen Zeiten). Kein Wort darüber, wie viel Mut es braucht, für angemessenen Lohn und freie Wahlen auf die Straßen zu gehen in dem Wissen, dass man sich diese Straßen mit Panzern teilen muss.
Natürlich frage ich an diesem Tag meine Oma: „Was hast du in diesem Sommer vor 70 Jahren gemacht?“ So, wie man Menschen, die Zeitzeug*innen großer Ereignisse sind, stets fragt. Schließlich weiß jeder Mensch meiner Generation, wo er war und was er getan hat, als die Twin Towers in sich zusammenstürzten. 1953 war meine Oma 13 Jahre alt und mit ihrem Freund auf dem Weg nach West-Berlin. „Bärbel, Ich hab keinen Bock mehr, mich krumm zu machen für umme“, hat er gesagt. Während in der BRD der Marschallplan lockte, litten die Menschen in der DDR weiterhin unter Essensrationierung. Wer nicht von Idealen oder festen Familienstrukturen gehalten wurde, machte sich aus dem Staub. Meine Oma weiß sicher noch, was sie an dem Tag getragen hat, als sie auf sein Motorrad stieg. Wahrscheinlich war es nichts Extravagantes, das gehörte erst in den 60er Jahren zu ihrem Stil, als sie mit meinem Opa im Plauener Großstadtleben die verlorenen Jahre aufholte und dabei die Geburtstage ihrer Kinder vergaß. Caprihosen kamen zu dieser Zeit in Mode. Kombiniert mit einem lockeren Pullover oder Twinset. In diesem Outfit muss sie sich wie Audrey Hepburn gefühlt haben, die ungefähr zur gleichen Zeit für die Romantikkomödie „Ein Herz und eine Krone“ mit Gregory Peck auf der Vespa durch die Straßen Roms wackelte.
Von Zeulenroda zum Potsdamer Platz in Berlin, dem damaligen „Dreiländereck“ zwischen dem sowjetischen, dem britischen und dem amerikanischen Sektor sind es heute 278 Kilometer, meist Autobahn, drei Stunden Fahrt. Damals führte der Road Trip ins 100 Kilometer entfernte Erfurt. Nicht nach Norden, sondern nach Westen. Ein Umweg, aber wer kann heute schon noch nachvollziehen, welches Wegenetz in Takt und mit möglichst wenigen Kontrollstellen passierbar war. Welche Pläne die beiden wohl geschmiedet haben? Was würden sie als erstes tun im Land, wo Milch und Honig fließen? Vielleicht Eis essen? Wie gesagt, meine Oma war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt. Da denkt man doch noch ans Eis essen, oder?
Selbstverständlich ein Grund für deren Mutter, ihr Verschwinden zu melden. „Sie ist mit diesem Nichtsnutz auf dem Motorrad unterwegs. Sie ist doch noch ein Kind“, hat sie sicher skandiert. Ein Kind war meine Oma nicht mehr, seitdem ihre Schuhe an einer Phosphorbombe geschmolzen waren, sie einer zweiten Bombe nur um Sekunden entronnen und mit gerade einmal elf Jahren hinter einen Busch gezerrt und vergewaltig worden war. Es war also kein Argument, doch sicher begründete Angst, die meine Uroma dazu veranlasste, dem jungen Glück keine Chance zu geben, sondern ihnen die Polizei auf den Hals zu jagen. Man fasste sie schon in Erfurt. 100 Kilometer Freiheit hatten sie gekostet. Kein Stoff für einen Hollywood-Film. Die Minderjährige kam zurück nach Zeulenroda. Der Motorradfahrer verschwand nach West-Berlin.
Er kam zurück. Blieb. Sie wurden Eltern. Doch das ist nicht das Happy End dieser Geschichte. Der Aufenthalt in West-Berlin bescherte dem Ausreißer eine Anklage als Spion und damit das Zuchthaus. Er erhängte sich in seiner Zelle.
Am 70. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR habe ich erfahren, dass meine Oma nicht nur den Tod von zwei, sondern drei Lebensgefährten zu betrauern hatte. Ich habe es nicht von ihr selbst erfahren. Sie, die mit 32 Jahren als jüngste Oma der DDR ins Fernsehen kam, starb, ohne ihr viertes Urenkelkind, kennenzulernen. Sie starb an ihrem 77. Geburtstag ohne mir die Geschichte ihres Road Trips erzählt haben zu können.