
„Du kommst doch zurück?“
„Der Plan ist, dass ich nicht zurückkomme.“ Ich streiche dir übers Haar während ich das sage. Eigentlich sollte ich schweigen, aber es hat keinen Zweck. Entweder das Meer wird mich verschlingen oder einer der Menschenfresser an der Küste gegenüber. Sie sollen die gleiche Farbe haben wie die Wände um uns herum.
Unser Zuhause seit deiner Geburt. Tiny House nannte man das früher – als die Datsche im Kleingarten ersetzt wurde vom Traum, sich neben der Wohnung in der Stadt, noch etwas Freiheit auf der grünen Wiese zu gönnen. Stell dir das nur vor. Die Menschen hatten einen, zwei, vielleicht drei oder mehr Orte, an denen sie sich zuhause fühlten. Als wir Abschnitt 42E noch verlassen durften, habe ich ein Poster in einem verlassenen Architekturbüro gefunden. Keine Ahnung, ob es ein Kinoplakat oder Werbung war. Manchmal, wenn ich nachts wach lag, habe ich versucht, mir dieses Idyll in den Stahlcontainer zu holen. Das leise Vibrieren der Elektroleitungen wurde zum lieblichen Bach – keine reißenden Fluten, denen unser Haus vor fünf Jahren zum dritten Mal zum Opfer fiel. Nur wenige Monate später wurde der Hausbau gänzlich aufgegeben. Mit lieblich meine ich so flach, dass wir darin stehen und gehen könnten. Am freundlichen Bach stand ein hellbraunes Holzhaus auf Rädern, mit Veranda und Blumenkästen, blauen Fensterrahmen und weißen Gardinen. Natürliche Maserung. Ich konnte den Geruch des Holzes fast riechen und mich dabei an einen dichten Wald erinnern. Die kahlen Stümpfe nach dem großen Sturm fallen mir erst jetzt wieder ein, denn dieser Moment ist ohne Hoffnung.
Sollte ich das Ufer erreichen, gibt’s kein Zurück mehr. Dann bin ich außerhalb der Reichweite von Jupiter 5. Auf der anderen Seite gibt es keine Wetterkontrolle. Manchmal soll es dort regnen. Wirklich regnen. Natürlich ein Gerücht. Bevor sie uns in ein paar Jahren sowieso hinter die Glocke verbannen, brauche ich Gewissheit. Oder den Tod.
Je mehr Kinder allein zurückbleiben, desto eher schicken sie die großen Wolken vorbei. Wenigstens ein Mal im Monat. Wir konnten deutsche Wurzeln bis in die 5. Generation nachweisen. Sogar mein jüdischer Opa zählte. Diesmal. Wenn du deutsche Wurzeln nachweisen kannst und bedürftig bist, dann bekommst du auch Regen. Manchmal. Diese beiden Ausnahmen konnten sie in der Großen Revolution von 2030 durchsetzen. Wochenlang stand das Land still wegen des Streiks bis die KI so etwas wie Menschenrechte gelehrt bekam. Natürlich ein Kompromiss, ein weiteres Zugeständnis an die Faschisten. Der Preis für Ruhe im Land. Wurzeln. Als ob es irgendjemanden hier noch freiwillig hält.
Alle anderen Wetterentscheidungen trifft Jupiter 5 autark. Er weiß, wie viel Wasser produziert werden kann, wie viel Strom zur Verfügung steht und welcher Abschnitt aufgegeben werden muss. Er teilt Lebensmittel nach einem komplexen Leistungsprinzip zu. Doch je mehr Orte wir an die Dürre verlieren, desto weniger Essen gibt es. Dann entscheidet das Los, wer die Reise hinter die Glocke antreten muss.

Ich darf dich jetzt noch nicht mitnehmen. 10 Bedürftigkeitspunkte mehr sichern 100 Menschen das Überleben. Für eine Weile. Bald wird dieses Zuhause geräumt. Dann sehen wir uns wieder. Meine Hand ruht jetzt auf deinem Haar. Die kleinen Locken drehen sich um meine Fingerspitzen. Wie kann es nur so weich bleiben bei dem ganzen Staub. Der Wind schert sich heute mal wieder einen Scheiß um eure Wetterschneise. Jupiter 5 leistet ganze Arbeit. Doch der Saharasturm hat es bisher immer geschafft, seine Synapsen für einige Stunden lahm zu legen. Man spürt es schon Tage zuvor an den feinen Sandkörnern zwischen den Zähnen. Wie bei einem Strandpicknick in dem vergilbten Kinderbuch deiner Oma. Die Erinnerungen daran sind längst verblasst, vielleicht auch verdrängt von neuen. Bald wird der Himmel rot. Und dann kommt die Hitze. Als würde dir jemand einen Fön direkt ins Gesicht halten. Tagelang. Wenn der Spuk vorbei ist, kommen die weißen Transporter und fahren die Straßen ab. Wer hätte geglaubt, dass die einzigen Autos, die fahren dürfen, einmal Leichenwagen sein würden.
Jupiter 5 ist in den Nachtmodus über gegangen. Wieder eine Stunde später als noch letzte Woche. Das kann am Sandsturm liegen oder an den schwindenden Energiereserven. Das sagt man uns ja schon lange nicht mehr. Als Hoffnungsschimmer haben sie uns immerhin die Sterne gelassen. Sie strahlen so schön wie in den Filmen. Wieder blitzt das Sonnensegel der Raumstation auf. Dort oben sitzen diejenigen, die behaupten, diesen Karren hier aus dem Dreck ziehen zu können. Ob ihnen das noch jemand glaubt, spielt keine Rolle mehr.
Ob hinter der Glocke die Überreste der hübschen Ostseebäder zu finden sind? Ich wünschte, ich hätte sie dir zeigen können. Unsere Traumreise habe ich dir aufgenommen. Mit der Batterie, für die ich meine Essensration der letzten drei Tage versetzt habe, kannst du sie dir nun etwa eine Woche lang zum Schlafengehen anhören. Danach solltest du sie auswendig können. Du solltest deine Füße im Wasser kühlen, die feine Brise um die Nase fühlen und den Schatten des Strandkorbes auf deinem Gesicht spüren können. Dann fällt dir das Schlafen sicher leichter. Bitte weine nicht. Die großen Wolken werden erst in einer Woche hier sein und im Wassertank ist schon der Boden zu sehen. Wir können uns keine Tränen leisten.
Es wird nun Zeit. Jupiter 5 wirft meine Losnummer in grellem Gelb in den Nachthimmel. Dafür haben wir also genug Energie. Den Weg zu den Booten muss ich im Dunkeln finden. Leises Gemurmel leitet mich. Es sind deutlich mehr Menschen als noch vor einem Jahr als ich Marie hier verabschiedet habe. Der Sturm hat sich gelegt, das Meer wirkt sogar einladend. Bis auf die Lichtstrahlen, die langsam übers Wasser gleiten. Das sind die Boote der Wachen auf der anderen Seite. Die Menschenfresser in RAL 7000. Fehgrau. So unscheinbar. Bürokratisch gedeckt in Farbe und Funktion. Fast unsichtbar und deshalb so gefährlich. Hier will man uns nicht mehr haben, dort drüben sind wir ebenso wenig willkommen.
Das Boot schwankt als ich den ersten Fuß hineinsetze. Es sind viel zu viele Menschen. Und die da drüben wissen doch längst, dass wir hier sind. Ich sehe meine Angst in den Augen der anderen. Meine füllen sich mit Tränen der Gewissheit. Sie schicken uns in den Tod.

Schweiß. Er rinnt mir den Rücken hinunter, brennt mir in den Augen als ich sie langsam öffne. Die Schatten sind weitergezogen. Das Verdeck des Strandkorbes schützt mich nicht mehr. Die Mittagssonne verbrennt meine Wangen. Schick ist anders. Ich richte mich auf und sofort fällst du mir ein. Du sitzt im Sand, dort, wo er nicht heiß ist, sondern regelmäßig von der Brandung umspült wird. Du kühlst deine Füße im Wasser, reckst deine Nase in den Wind und siehst aus, als wärst du in einen Tagtraum vertieft. In deinen Locken spielt der Wind.
Nur ein Traum, das sagt mir eine innere Stimme, doch ich weiß, dass sie lügt. Wenn ich aufs Meer schaue, die Augen etwas zusammenkneife, um das Flirren über dem Sand auszutricksen, dann kann ich sie sehen. Die Menschenfresser. Nichts als Zufall, dass wir auf dieser Seite des Ufers sitzen und sie heute schon satt sind.