Ödnis plus Netzausfall

Diese Geschichte entstand am vergangenen Freitag, als ich meiner Fähre nach Hause nur nachschauen konnte, da der Bus eine Minute Verspätung hatte. Im Schreibseminar hatten wir folgende Aufgabe bekommen: Ein toter Mann liegt nackt im Schnee. Es gibt keine Spuren. In der Hand hält er ein Streichholz. Was ist passiert?

Eine nächtliche Straße mit leuchtenden streifen von Autolichtern. Im Hintergrund der Kieler Fernsehturm

Lothar hatte auf den Bus gewartet. Jetzt könnten wir in aller Überheblichkeit argumentieren: selbst schuld. Aber wer weiß schon, welche Umstände ihn an diesem Abend an diese gottverlassene Haltestelle am Rande der Stadt führten. „Aufgrund erhöhten Verkehrsaufkommens kann es zu Verspätungen kommen.“ Diese Worte tickerten geräuschlos über die Anzeigentafel. Neongelbe Punkte auf Schwarz. Immer wieder. So gar nicht in Bewegung setzen wollte sich die Minutenanzeige, die es nur zu einem kaltweißen Farbton gebracht hatte. In Lothars Kopf schwoll das Verkehrsaufkommen allmählich zum Alarmsignal an.

Als es dunkel wurde, erlosch die Anzeigentafel. Logisch. So logisch wie ein Bus, der nicht fährt. Eben deshalb wusste Inspektorin Magda Sund, dass diesem Fall mit Logik nicht beizukommen war. Sie blickte auf den jungfräulichen Schnee zu ihren Füßen. Lebend und eventuell bekleidet hätte dieser Mann durchaus attraktiv sein können. So war er nur ein weiterer tragischer Fall von ÖPNV: Ödnis-plus- Netzausfall-Virus. Der dritte diesen Monat, seit der Großbaustelle am Theodor-Heuss-Ring.

Die Bilder des letzten Opfers, die eine Überwachungskamera in der Nähe aufgezeichnet hatte, waren nichts für schwache Nerven. Es lief wohl immer ähnlich ab. Sobald die Anzeigentafel erlischt und das Opfer versucht, im Schein des letzten Streichholzes den Fahrplan in Schriftgröße 4,5 zu entziffern, begeht die letzte klare Gehirnzelle Selbstmord. Das Opfer halluziniert und erschafft sich eine Utopie aus pünktlicher Busfahrt, Ankunft in sicherer Privatheit und einem Bett. Deshalb ziehen sie sich aus. Je nach Schlafvorliebe, leicht bekleidet oder nackt, legen sie sich nieder und erfrieren mehr oder weniger schnell.

Lothar bekam jetzt ein Laken übergezogen als habe er letztlich doch in sein Bett gefunden. „Vergesst nicht, ihm eine Nummer zu geben. Die Baustelle dauert noch bis April.“

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